Neuorientierung in der christlichen Sexualpädagogik

Im Hinblick auf die Jugendsynode in Rom verlangten zahlreiche Jugendliche im Rahmen des Vorbereitungsprozesses eine Aktualisierung der kirchlichen Sexuallehre, die angesichts der Aufarbeitung der sexuellen Missbrauchsskandale dringlicher denn je scheint. Ein Interview des solothurnischen Kirchenblatts mit dem Religionspädagogen Prof. Dr. Stephan Leimgruber über die geforderte Neuorientierung.

Früher war alles, was mit Sexualität zu tun hatte, peinlich, verboten und sündhaft. Wie hat sich die Einstellung zur Sexualität in unserer Zeit verändert?

Die Bewertung von Körper und Sexualität hat sich zu einer positiven und würdigenden Sicht verändert. Es hat in der Geschichte Zeiten gegeben, in denen Sexualitäts- und Leibfeindlichkeit vorherrschten. Der lange Schatten des einflussreichen Kirchenvaters Augustinus hat bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nachgewirkt, auch bis in die Gewissenserforschung und Beichte zum 6. Gebot. Dann haben Philosophie und Theologie die Körperlichkeit und Personalität des Menschen aufgewertet und die tiefe Verbindung von Leib, Geist und Seele im Ganzen des Menschen in Erinnerung gerufen. Die Bibelforschung zeigte, wie in der Bibel Körper und Sexualität positiv dargestellt werden. Von dieser grundsätzlich positiven Einstellung zu Körper, Person und Sexualität her muss die kirchliche Sexuallehre erneuert werden. Ansätze sind längst vorhanden, sogar in kirchlichen Dokumenten. Aber es werden keine Konsequenzen gezogen. Kaum ein Bischof wagt es, sich dazu zu äussern, und zwar weil die Tradition dazu negativ ist, sofort Widersprüche auftreten und er der Untreue zur kirchlichen Lehre bezichtigt würde.

Die breite Zugänglichkeit zu Schutz- und Verhütungsmitteln hat Sexualität als lustvolle menschliche Erfahrungs- und Ausdrucksmöglichkeit vom Zeugungsakt unabhängig gemacht. Muss deshalb Sexualpädagogik nicht mehr sein als das Erklären des Zeugungsvorgangs?

Sexualität wird nicht mehr auf die Zeugungsfunktion reduziert, sondern heute von vielen als eine gleichwertige Erfahrungsmöglichkeit neben vielen anderen gesehen. Dabei gehen oft die Besonderheit und personale Bezogenheit vergessen. Im Gegensatz zur früheren Leibfeindlichkeit geht es heute darum, körperlich fit und schön zu sein. Manche betreiben gar eine Art Körperkult. Die Käuflichkeit von Sexualität und der leichte Zugang zu harter Pornografie im Internet geben zu denken und müssen mit Jugendlichen thematisiert werden. Natürlich wäre es schön und sinnvoll, wenn in der Schule eine wohlwollende interdisziplinäre Kooperation von verschiedenen Fächern wie Sprach- und Biologieunterricht, Lebenskunde und Religionsunterricht zustande käme. Dies setzt aber ein gutes Schul- und Klassenklima und Vertrauen unter den Schülerinnen und Schülern voraus. Zuerst sind jedoch die Eltern und Erziehungsverantwortlichen an der Reihe. Subsidiär und wissensorientiert muss der Sexualkundeunterricht in der Schule eine minimale Kompetenz in diesen Fragen aufbauen.

In der Schule müssen Jugendliche lernen, dass sowohl Frauen und Männer als auch Menschen mit verschiedenen sexuellen Orientierungen in Beziehungen und bezüglich Sexualität gleichberechtigt sind. Sind das auch Anliegen einer christlichen Sexualpädagogik?

Durchaus. Christinnen und Christen sollen lernen, ein gutes Verhältnis zum eigenen Körper und zur Sexualität zu finden, ferner den Partner oder die Partnerin in seiner bzw. ihrer Originalität zu akzeptieren und respektieren zu lernen. Sie sollen eigene Erwartungen und Ansprüche an Beziehungen klären, eine Sprache der Zärtlichkeit, Erotik und Sexualität finden und verschiedene sexuelle Orientierungen (wie beispielsweise Homosexualität) nicht-diskriminierend benennen können. Ich denke, dass in der heute pluralen Gesellschaft mehrere Lebensformen und Möglichkeiten des Zusammenlebens gegeben sind und akzeptiert werden. Auch aus christlicher Sicht gibt es verschiedene durchaus sinnvolle Lebensstile (Familie, Alleinstehende, Ehelosigkeit, gemeinschaftliches Leben, Verzicht auf Kinder, um eine grössere berufliche oder soziale Aufgabe zu erfüllen). Die Faktoren, um eine «ewige Partnerschaft» zu leben, wie es in der Bibel angesprochen ist, sind schwieriger geworden, wenn man an die Mobilität denkt und das Faktum, dass Ehen viel länger dauern als in früheren Zeiten. Gleichwohl dürfte die Ehe ein idealer Lebens- und Schutzraum bilden, in dem man sich unbedingt angenommen und geborgen weiss.

Interview: Kuno Schmid (26.2.19)


Der Text erschien erstmals im Kirchenblatt Nr. 4 am 13. Februar 2019. 


 

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Die kirchliche Sexuallehre muss von der grundsätzlich positiven Einstellung zu Körper, Person und Sexualität her erneuert werden.

Bild: pixabay.com

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