Solothurn, 5.3.2024. (Bistum Basel). Knapp ein halbes Jahr nach der Publikation der von der römisch-katholischen Kirche in Auftrag gegebenen Pilotstudie am 12. September 2023 berichtet das Bistum Basel über die  während der Amtszeit von Bischof Felix Gmür eingegangenen Meldungen zu sexuellen Übergriffen und deren Bearbeitung. Um Betroffene direkt zu hören, tauschte sich der Bischofsrat am 28. Februar 2024 mit Betroffenen aus den Organisationen IG-M!kU und Groupe SAPEC aus.

Im Bistum Basel ist die Surseer Anwaltskanzlei Hess Advokatur AG die offizielle unabhängige Meldestelle für sexuelle Übergriffe. Die unabhängige Koordinationsperson dieser Meldestelle ist beauftragt, Meldungen von mutmasslichen sexuellen Übergriffen entgegenzunehmen und setzt sich dafür ein, dass ein Vorfall vollständig geklärt wird. Hierfür koordiniert sie nach uneingeschränkter Akteneinsicht straf-, personal- und kirchenrechtliche Verfahren bzw. Massnahmen, erstellt ein Dossier, gibt entsprechende Empfehlungen an den Bischof ab und kontrolliert deren Umsetzung sowie den Fallabschluss. Betroffene werden über die Verfahrensschritte laufend persönlich informiert.

Meldungen während der Amtszeit von Bischof Felix Gmür

Während der 13-jährigen Amtszeit von Bischof Felix Gmür sind insgesamt 183 Meldungen von mutmasslichen sexuellen Übergriffen eingegangen (Stand: 29. Februar 2024). Davon entfielen etwa die Hälfte (92 Meldungen) auf die Zeit nach Veröffentlichung der Pilotstudie. Teilweise beinhalten neue Meldungen auch Nachfragen zu einem bereits früher gemeldeten Vorfall. Als Meldung gilt jede Kontaktaufnahme, die einen mutmasslichen sexuellen Übergriff betrifft oder in welcher ein solcher Verdacht mitgeteilt wird. Als Meldungen zählen also auch Kontaktaufnahmen, bei denen weder das mutmassliche Opfer noch die beschuldige Person namentlich benannt werden.

Ist eine Pfarrei oder Kirchgemeinde involviert, werden sie kontaktiert. So wurde z.B. im Anschluss an die Veröffentlichung der Pilotstudie mit jenen Pfarreien Kontakt aufgenommen, die über Falldarstellungen identifiziert werden konnten.

Die Aufnahme und Darstellung des Sachverhaltes und entsprechende Nachforschungen sind für die unabhängige Koordinationsperson, die ein Dossier mit den Empfehlungen für den Bischof zusammenstellt, sehr aufwendig. In Solothurn nahm sie bis heute uneingeschränkt Akteneinsicht in 44 Personal-, 6 Pfarrei- und 6 Betroffenendossiers. Bei 29 Meldungen wurde keine Akteneinsicht vorgenommen, da entweder die beschuldigte Person unbekannt bleibt oder offensichtlich kein sexueller Übergriff vorliegt. Weitere Einsichtnahmen sind geplant. 8 Meldungen konnten gemäss den Empfehlungen der unabhängigen Koordinationsperson bereits vollständig abgeschlossen werden.

Grossmehrheitlich beziehen sich die gemeldeten mutmasslichen sexuellen Übergriffe auf einen Tatzeitpunkt im letzten Jahrhundert. Im Folgenden wird auf konkrete Zahlen eingegangen, wobei zu betonen ist, dass hinter diesen Zahlen immer persönliche Schicksale von Betroffenen stehen.

Meldungen seit dem 12. September 2023

Die Pilotstudie hat einen ersten Überblick über die sexuellen Übergriffe im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz vorgelegt. Die Publikation der Studie und die breite öffentliche Diskussion haben dazu beigetragen, dass Betroffene teilweise auch nach langem Schweigen die unabhängige Meldestelle im Bistum kontaktierten. Seit 12. September 2023 gingen insgesamt 92 Meldungen ein. Das sind so viele wie zuvor in mehr als 12 Jahren. 58 Meldungen betreffen mutmassliche sexuelle Handlungen mit Kindern. Soweit heute bekannt, beziehen sich 2 davon auf einen Vorfall im 21. Jahrhundert. In dieser Deliktskategorie geht es bei 20 Vorfällen um das Berühren nackter oder bekleideter Körperteile, bei weiteren 22 Meldungen werden auch auf Nachfrage hin keine Informationen zu den sexuellen Handlungen mit einem Kind gegeben, 11 Meldungen betreffen sexuell motivierte Äusserungen und Gestiken, 5 Oral-/Anal- oder Geschlechtsverkehr. Grossmehrheitlich betroffen sind männliche, minderjährige mutmassliche Opfer bei grossmehrheitlich männlichen Erwachsenen als beschuldigte Person.

32 beschuldigte Personen waren im Zeitpunkt des vorgeworfenen Delikts als Weltpriester oder Diakon tätig, 13 gehörten einem Orden an. Die übrigen Personen hatten eine andere Funktion im kirchlichen Umfeld inne oder sind nicht eruierbar. Dass sich die Anzahl der Meldungen und die Anzahl der beschuldigten Personen unterscheiden, liegt daran, dass manche Personen mehrfach beschuldigt sind.

Von den 92 Meldungen sind 78 aufgrund von Verjährung oder Verwirkung nach dem staatlichen Strafrecht nicht mehr verfolgbar. 13 Meldungen beinhalten kein Strafdelikt, einen unbekannten Übergriff oder eine unbekannte Tatzeit. 1 unverjährter mutmasslicher sexueller Übergriff ist bei der Staatsanwaltschaft hängig. Das Dikasterium für die Glaubenslehre hat dasselbe Dossier bereits geprüft und kein Vergehen festgestellt. Mehr als die Hälfte der beschuldigten Personen waren zum Zeitpunkt der Meldung bereits verstorben.

Ob ein gemeldetes Delikt verjährt oder verwirkt ist, wird von den zuständigen Staatsanwaltschaften abschliessend geklärt. Seit dem 12. September 2023 konnten von Bischof Felix Gmür 10 Strafanzeigen eingereicht werden; davon betrafen 8 Strafanzeigen verstorbene beschuldigte Personen.

Weiter besteht bei verjährten Delikten sowie bei verstorbenen beschuldigten Personen die Möglichkeit, bei der nationalen «Kommission Genugtuung für Opfer von verjährten Übergriffen im kirchlichen Umfeld» einen Antrag auf Zahlung einer Genugtuung zu stellen. Dies geschieht durch die unabhängige Anwaltskanzlei Kellerhals Carrard in Bern. Seit dem 12. September 2023 hat Generalvikar Markus Thürig dieser Kanzlei 8 Aufträge erteilt, einen Genugtuungsantrag einzureichen. Bischof Felix Gmür hat sie beauftragt, 3 kanonische Voruntersuchungen durchzuführen.

Die beiden unabhängigen Anwaltskanzleien Hess Advokatur AG und Kellerhals Carrard erstellen fortlaufend umfangreiche Dossiers, erstere für den Bischof betreffend weiterer Massnahmen wie insbesondere die Strafanzeige, zweitere für die Anträge auf Genugtuung und die kirchenrechtlichen Voruntersuchungen.

Meldungen vor dem 12. September 2023

Seit dem Amtsantritt von Bischof Felix Gmür am 16. Januar 2011 bis zum 11. September 2023 gingen beim Bistum Basel 91 Meldungen von mutmasslichen sexuellen Übergriffen ein.

In dieser Zeitspanne beinhalteten 49 Meldungen sexuelle Handlungen mit Kindern und Jugendlichen. 22 Meldungen betrafen sexuelle Belästigungen unter Erwachsenen, 4 Meldungen Ausnützung einer Notlage, 1 Meldung eine Vergewaltigung, 1 Meldung Kinderpornographie. 9 Meldungen betrafen kein Sexualdelikt und bei 5 Meldungen war die Tat nicht feststellbar.

Die Mehrheit der beschuldigten Personen war zum Tatzeitpunkt als Weltpriester oder Diakon (39), Ordensmitglied (24) oder in anderer Funktion im kirchlichen Umfeld (22) tätig. 6 Personen hatten keinen Kirchenbezug oder waren nicht eruierbar. Mehrheitlich waren die Delikte nach staatlichem Strafrecht bereits verwirkt oder verjährt. 7 Meldungen wurden nach staatlichem Strafrecht angezeigt (5 durch Dritte, 2 durch den Bischof). 44 Meldungen betrafen kein Strafdelikt oder die Delikte waren nicht eruierbar. 9 Dossiers wurden an die damalige Glaubenskongregation nach Rom gesandt. In personalrechtlicher Sicht gab es u.a. Massnahmen wie Entzug der Missio canonica, Einschränkungen oder Verbot seelsorgerischer Tätigkeiten, Kontaktverbote oder Therapieauflagen, manchmal mehrere Massnahmen gleichzeitig.

Bei verjährten Delikten sowie bei verstorbenen beschuldigten Personen bestand damals wie auch heute die Möglichkeit, bei der «Kommission Genugtuung für Opfer von verjährten Übergriffen im kirchlichen Umfeld» einen Antrag auf Zahlung einer Genugtuung zu stellen. Gestützt auf die eingereichten Anträge wurden 29 Genugtuungszahlungen an Betroffene ausbezahlt. Bischof Felix Gmür und Personalverantwortliche führten mit den Betroffenen, die es wünschten, persönliche Gespräche.

Mahnung aus Rom

In einem Fall von mutmasslichen sexuellen Übergriffen eines Aushilfspriesters gegenüber einer minderjährigen Person hatte Bischof Felix Gmür in einer Stellungnahme am 18. August 2023 Verfahrensfehler eingeräumt. Diese haben der betroffenen Person zusätzlichen Schaden zugefügt. Damit die betroffene Person Gerechtigkeit erfährt, liess Bischof Felix Gmür den Fall in Rom prüfen. Das Dikasterium für die Bischöfe stellte in seinem Brief vom 16. Februar 2024 zwei Verfahrensfehler fest. Bischof Felix Gmür habe erstens den Ortsordinarius des Beschuldigten pflichtgemäss über den angezeigten Fall informiert. Allerdings sei es nicht ratsam gewesen, die gesamte Dokumentation an diesen weiterzugeben, da Vorsorge angebracht gewesen wäre, dass diese nicht in den Besitz des Beschuldigten gelangte. Zweitens wurde die späte Benachrichtigung des Dikasteriums für die Glaubenslehre über die Anschuldigungen gegenüber dem Priester als formales Versäumnis beurteilt, nicht aber als den Versuch einer Vertuschung, wie die gesamte Chronologie der Angelegenheit gut belegen würde. Das Dikasterium kam zu folgendem Schluss: «In Anbetracht des vorher Gesagten spricht Ihnen dieses Dikasterium eine Mahnung aus wegen mangelnder Vorsicht im ersten und wegen Unachtsamkeit im zweiten Punkt. Gleichzeitig ist aber auch festzustellen, dass sich kein Anhalt für Absicht von Vertuschung noch für mangelnden Respekt vor der mutmasslichen Betroffenen findet.»

Im Blick auf die Zukunft sagt Bischof Felix Gmür: «Ich setze alles daran, dass sich Verfahrensfehler, die insbesondere den Betroffenen zusätzlichen Schaden zufügen, durch die heute geltenden Verfahrensbestimmungen und die standardisierten, unabhängigen Bearbeitungen der Meldungen nicht wiederholen».

Austausch mit Betroffenen

Der Bischofsrat des Bistums Basel hat sich am 28. Februar 2024 im Rahmen seiner Klausurtagung in Delsberg mit drei Personen der Interessengemeinschaft für missbrauchsbetroffene Menschen im kirchlichen Umfeld (IG-M!kU) und der Groupe Soutien aux personnes abusées dans une relation d’autorité religieuse (Groupe SAPEC) getroffen. Der Austausch hat wichtige Impulse für einen verbesserten Umgang mit Betroffenen und für Intervention und Prävention geliefert.

Vreni Peterer (Präsidentin IG-M!kU), Marie-Jo Aeby (Vizepräsidentin Groupe SAPEC) und Walter Holenstein (Mitglied IG-M!kU) schilderten eindringlich ihre Erfahrungen als Betroffene schwersten sexuellen Missbrauchs. Sie selbst reden von sich selbst teilweise bewusst als «Überlebende», weil sie dieser Begriff stärkt.

Besonders erschüttert waren die Mitglieder des Bischofsrats von den Schilderungen, wie die Täter Vertrauen zunächst gezielt aufgebaut und dann brutal zerstört haben. Die Betroffenen leiden oft lebenslang an mangelndem Selbstvertrauen, Vertrauen in Mitmenschen und auch in Gott. Die Folge können schwere körperliche Beschwerden, psychische Erkrankungen und auch berufliche und wirtschaftliche Probleme sein.

Der Bischofsrat und die Vertreterinnen und Vertreter der IG-M!kU und Groupe SAPEC tauschten sich auch darüber aus, worauf bei Interventionen aus Sicht der Betroffenen zu achten ist. Sie brauchen sichere Orte und professionell ausgebildete Ansprechpersonen, um ihre persönliche Geschichte erzählen und aufarbeiten zu können. Dabei ist es nicht mit einer einzigen, kirchenunabhängigen Anlaufstelle getan. Es braucht eine Vielfalt von (auch regionalen) Zugängen und Ansprechpersonen, um den häufig sehr individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Besonders wichtig sind auch Selbsthilfegruppen: Hier erfahren viele Betroffene erstmals nachhaltig, dass ihnen ihre Geschichte unvoreingenommen und rückhaltlos geglaubt wird. Die IG-M!kU und die Groupe SAPEC treten zudem dafür ein, dass die Rechte der Opfer gewährleistet sind (Recht zu wissen, was passiert ist – Recht auf Gerechtigkeit – Recht auf Wiedergutmachung – Garantie der Nichtwiederholung).

Prävention beginnt für die Betroffenenorganisationen damit, dass sich Menschen mit der Thematik auseinandersetzen und deshalb genauer hinschauen, zuhören und handeln. Angemessener Umgang mit Nähe und Distanz betrifft die ganze Kirche, in besonderer Weise aber kirchliche Mitarbeitende, Leitungspersonen und Behördenmitglieder im dualen System. Grenzverletzungen gerade in seelsorglichen Beziehungen müssen besprechbar werden, um Missbrauch zu verhindern.

Die bereits bestehenden Anlaufstellen, das Schutzkonzept und die Präventionsmassnahmen im Bistum Basel sind auf der Bistums-Homepage abrufbar.

Bischof Felix Gmür, Weihbischof Josef Stübi und der ganze Bischofsrat danken Vreni Peterer, Marie-Jo Aeby und Walter Holenstein für ihren Mut, ihr Engagement in den Betroffenenorganisationen und die Bereitschaft, ihre Geschichte trotz des immensen Vertrauensverlusts zu erzählen und so wichtige Impulse für eine Verbesserung von Aufarbeitung, Intervention und Prävention zu setzen. Vreni Peterer brachte das gemeinsame Ziel zum Abschluss auf den Punkt: Eine Kirche ohne Missbrauch.

Bischof Felix Gmür, der Bischofsrat und die Betroffenenorganisationen befinden sich in einem Lernprozess und bleiben weiterhin im Gespräch.

Präventionsarbeit zeigt Wirkung

Während der Amtszeit von Bischof Felix Gmür gab es 183 Meldungen von mutmasslichen sexuellen Übergriffen. 87 % der Meldungen betreffen Taten im Zeitraum bis Ende 2010, 13 % seit anfangs 2011 bis heute. Die Anzahl der gemeldeten mutmasslichen Sexualdelikte, deren Tatzeitpunkt in den letzten 20 Jahren lag, hat deutlich abgenommen. Diese Tatsache stimmt zumindest zuversichtlich, dass die seit mehreren Jahren intensiven Präventionsarbeiten ihre Wirkung entfalten.

Bischof Felix Gmür dankt im Namen des Bistums Basel der unabhängigen Koordinationsperson und der Hess Advokatur AG als offizielle unabhängige Meldestelle für sexuelle Übergriffe im Bistum Basel für die sehr wichtige, gewollte und zeitlich intensive Aufarbeitung. Das Bistum ermutigt Personen, die im kirchlichen Umfeld von sexuellen Übergriffen betroffen sind (oder davon hören), sich zu melden.

 

Präventionsarbeit im Bistum Basel

Die äusserst wichtige Präventionsarbeit wird konsequent durchgeführt. Denn die Verhinderung sexueller Übergriffe hat höchste Priorität im Bistum Basel: Seit 2004 werden verpflichtende Präventionskurse zum Thema «Nähe und Distanz» für Seelsorgernde durchgeführt, in den letzten Jahren auch für weitere Personen im kirchlichen Umfeld. Seit 2019 wird alle drei Jahre von pastoralen Mitarbeiternden mit einer Missio canonica ein aktueller Privat- und Sonderprivatauszug verlangt, ab 2020 ist das aktualisierte Schutzkozept zur Prävention und Intervention bei sexuellen Übergriffen im kirchlichen Umfeld - nach Vernehmlassung bei den kantonalen staatskirchenrechtlichen Körperschaften - in Kraft

Bistum Basel

Aufarbeitung Missbrauch in der Kirche
Quelle: zVg

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